Dies ist ein Gastbeitrag von Feyzi Demirel, den ich selbst schon seit einigen Jahren kenne. Wir laufen uns immer wieder bei Veranstaltungen über den Weg und stehen in lockerem Austausch. Feyzi hat sich der Streetfotografie verschrieben und selbst letzten Jahr einen Bildband über Istanbul (dazu ein Angebot am Ende) herausgebracht. Als ich vor einiger Zeit auf der Suche nach einem Co-Blogger war, sprach ich auch mit Feyzi. Ihm fehlt die Zeit regelmäßig zu bloggen, aber wollte trotzdem gerne eine Miniserie über die Streetfotografie als Gastbeitrag veröffentlichen. Tolle Idee. Hier kommt der erste von drei Teilen.
Da bin ich nun, genau an dem Ort, wo Teile meiner persönlichen neuzeitlichen Fotografie angefangen haben, auf Paddy’s Blog. Paddy und seine diversen Blogbeiträge haben mir seinerzeit die Welt in dieses Lightroom eröffnet, nach dem ich mich jahrelang auf das Knipsen beschränkt hatte. Es war ein schöner Anker, den ich hier fand, wohingegen meine fotografische Selbstfindung manchmal eher einer Irrfahrt auf hoher See glich. Ich habe so ziemlich alles ausprobiert, Studio- und Hochzeitsfotografie, Portraitshootings, und auch das ein oder andere vermeintlich wilde Tier musste dran glauben. Erst als ich die Street Photography für mich entdeckt habe, war ich wohl im richtigen Hafen angekommen. Ich weiß, das klingt kitschig, soll aber nur zeigen, dass ich die Street Photography nun seit einigen Jahren mit großer Leidenschaft betreibe. Der schnelle Einstieg, die große Unabhängigkeit und ein innerer Drang zu dokumentieren sind wohl die Gründe für diese Passion. Ich vermute, dass diese Gründe auch der Antrieb für sehr viele andere Fotografen sind, weshalb die Street Photography aktuell auch irgendwie angesagt ist. Das ist aus meiner Sicht keineswegs negativ. Mit der nun folgenden Beitrags-Reihe möchte ich vielmehr Street-Neulingen versuchen den Einstieg zu erleichtern und eventuell kann sich der eine oder andere fortgeschrittene Straßenfotograf einen für ihn neuen Tipp erlesen. Keineswegs möchte ich belehren, alles was ihr lest sind meine Gedanken und mein Style, es führen ganz viele Wege nach Rom oder in diesem Fall wohl auf die Straße.
Elementar für die Fotografie ist die Wahl des richtigen Werkzeugs, also einer Kamera und einer Brennweite bzw. eines Objektivs. Wieso sollte das bei der Street Photography anders sein? Deshalb möchte ich in diesem ersten Beitrag auch genau darauf genauer eingehen.
Die richtige Kamera
Das schöne an der Street Photography ist, dass im Prinzip jede Kamera in Frage kommen könnte. So spielt zum Beispiel die Sensorgröße meines Erachtens so gut wie keine Rolle. Dies liegt im Wesentlich daran, dass man zumindest bei ungestellten Szenen die Tiefenschärfe Eigenschaften von besonders großen Sensoren gar nicht benötigt. Das Risiko einer hohen Unschärfe durch eine zu große Blende ist einfach zu groß, weshalb ich in den meisten Fällen mit mindestens Blende 8 arbeite. Dies gibt mir die Möglichkeit die ganze Szenerie gleichwertig zu zeigen bzw. das Hauptmotiv in einen besseren Kontext zu setzen. An diesem einfachen Beispiel möchte ich letztlich zeigen, dass theoretisch viele Kameras für die Street Photography in Frage kommen. Die Auswahl kann vom Smartphone bis zur Mittelformatkamera reichen. Kann, sollte aber eventuell doch nicht. Denn es gibt schon durchaus Kriterien bei der Auswahl, die es einem später auf der Straße leichter machen können die ungestellte Situation einzufangen, mehrere Stunden durch eine Stadt zu streifen oder am Ende ohne große Diskussionen mit Menschen den Tag zu beenden.
Gewicht, Größe, und Geschwindigkeit sind für mich die Schlüsselkriterien, nach denen ich nun seit Jahren meine Kameras für die Street Photography aussuche. Natürlich war auch ich bei meinem Einstieg in die Street Photography nicht mit einer Kamera bewaffnet, die alle diese Kriterien erfüllt hat. Meine erste digitale DSLR war eine Canon 600D, eine gute Einsteiger-Allzweck-Kamera, die aber insbesondere mit den falschen Objektiven schon viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat und am Ende nicht wirklich leicht war. Es dauerte nicht lange und ich fing an ausgiebige Trips zu starten, und mehr und mehr zeichnete sich für mich ab, dass ich eine leichte Kamera brauche, die obige Kriterien erfüllt.
Das heute für mich wichtigste Kriterium ist das Gewicht. Natürlich macht das Gewicht einer Kamera in der Street Photography nicht viel aus, wenn man gerade auf einen Menschen wartet, der in den zuvor entdeckten Hintergrund läuft. Aber in der Regel sollte man versuchen eine Stadt zu erforschen, immer auf der Suche nach interessanten Menschen oder Szenen. Das bedeutet, man läuft und läuft, und wenn man nicht gerade Iron Man erprobt ist, dann könnte es einem am Ende des Tage besser gehen, wenn die Kamera samt Objektiv nicht deutlich die 1 kg Grenze überschreitet. Das ist für mich ein wichtiger Grund, warum heutzutage DSLRs und Mittelformat-Kameras nicht besonders gut für die Street Photography geeignet sind. Deshalb empfehle ich jedem Straßenfotografen unabhängig von der Sensorgröße eine Systemkamera ohne Spiegel. Diese wiegen in der Regel rund 500 Gramm und haben systembedingt häufig eher kleine Objektive, wenn man im genrespezifischen Brennweitenbereich von ca. 21-50mm bleibt.
Ich gebe zu, die Größe einer Kamera ist für mich etwas weniger wichtig. Hier muss man aber bedenken, dass eine größere Kamera tendenziell auch einiges mehr an Gewicht mitbringt. Zudem ist so ein klassischer DSLR-Bolide mit entsprechendem Objektiv nicht gerade unauffällig. Eine Szenerie ist schnell kaputt, wenn einer der Protagonisten den Onkel mit der großen Kamera vor dem Gesicht oder vor der Brust entdeckt. Ich darf erinnern, dass das durchaus auch Diskussionen mit sich bringen kann. Übrigens ist man heutzutage wohl am Unauffälligsten und trägt die leichteste Kamera mit sich, wenn man auf die Smartphone-Kamera zurückgreift. Das Smartphone hat man eh dabei, sie wiegt sehr wenig und dem Zeitgeist geschuldet reagiert kaum jemand auf Handy-Fotografen.
Das Kriterium Geschwindigkeit ist schnell erläutert. In der ungestellten Street Photography hat man manchmal nur wenige Sekunden Reaktionszeit für das perfekte Foto. Eine Szene kann genau so schnell weg sein, wie sie sich angebahnt hat. Natürlich kann man im Sinne einer Reportage oder Dokumentation auf der Straße fotografieren, aber für ungestellte Fotografie muss man sehr gut beobachten und reagieren können. Da hilft es nicht, wenn die eigene Kamera zu lange benötigt, um startbereit zu sein. Entweder sie ist schnell oder ihr solltet schauen diese nicht ausgeschaltet zu haben während ihr sie mit euch führt. Offen gesprochen mache ich beides. Meine Kameras müssen nach dem Einschalten schnell einsatzbereit sein, wobei ich sie in der Regel durchgehend an lasse und in der Hand halte. Dies geht zwar auf die Akkuzeit, aber die oben empfohlenen spiegellosen Systemkameras kann man u.a. wegen dem elektronischen Sucher eh kaum unter 2 Ersatzakkus betreiben, und diese hat man ja üblicherweise bei sich.
Die richtige Brennweite
Bezüglich der richtigen Brennweite gibt es üblicherweise viele Tipps oder „Regeln“, an die sich einige Fotografen sogar dogmatisch halten. So gelten die 35mm Brennweite beispielsweise als klassische Reportage-Brennweite oder die 85mm sollen perfekt für Porträts sein. Und so findet man für viele Situationen regelhafte Zuordnungen, welche sich für Einsteiger vielleicht noch gut zur Orientierung eignen, aber ansonsten sollte man sich nicht die Freiheit nehmen lassen mit diesen „Regeln“ zu brechen. Dementsprechend gibt es für mich nicht die eine Brennweite, die perfekt für die Street Photography ist und an die sich alle verpflichtet fühlen sollten. Ich für meinen Fall bin zwar ein großer Fan der „one body, one lens“ Idee, weil man mit einem gleichbleibenden Werkzeug mit der Zeit mehr und mehr die Konzentration dem Motiv gelten lassen kann. Nichtsdestotrotz wähle ich meine Street-Brennweite abhängig von meiner persönlichen Gefühlslage, der spezifischen Landeskultur und der Umgebung.
Warum denn die persönliche Gefühlslage, wird sich der eine oder andere unter Umständen fragen. Nun, in den letzten Jahren habe ich einiges an Erfahrung aufgebaut was den Umgang mit Menschen angeht. Es gibt so einige Tricks in meinem Repertoire, die ich nutze, um mit den Reaktionen der fotografierten Menschen umzugehen. Diese Reaktionen reichen von Freundlichkeit, über Ignoranz bis zur körperlichen Gewaltandrohung. Es gibt Tage, da bin ich selbst nicht unbedingt entspannt genug, um mit allzu negativen Reaktionen umzugehen. Da macht es für mich keinen Sinn mit einem 28mm (KB äquivalent) Objektiv auf die Straße zu gehen. 28mm oder weiter verlangt vom Street Fotografen eine große Nähe zu seinem Hauptmotiv bzw. zur Szene. Die Gefahr, dass man entdeckt wird ist recht hoch. Wie gesagt, dass kann zu Diskussionen führen. Gleichzeitig darf man dies natürlich nicht allein auf die Reaktion der Menschen begrenzen, denn auch die Szenerie, die man fotografieren möchte, ist schnell vorbei, wenn die Menschen sehen, dass sie fotografiert werden. Eventuell bekommt man dann noch ein Foto, aber eben kein ungestelltes.
Ihr seid nicht erfahren im Umgang mit Menschen oder habt noch nicht genug Tricks um unentdeckt zu bleiben? Dann versucht es also lieber mit einer Normalbrennweite von 50mm, statt mit 28mm oder weiter. Die 50mm sind zum Beispiel meine bevorzugte Brennweite in Deutschland. Denn auch die kulturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen haben aus meiner Sicht einen Einfluss auf die Wahl der passenden Brennweite für die Street Photography. Etliche Diskussionen um das Thema Bildrecht haben die Menschen hierzulande durchaus verunsichert und zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber unbekannten Fotografen geführt. Auch kulturell gibt es von Land zu Land zum Teil große Unterschiede. So reagieren Menschen in der Türkei offener auf Fotografen, als beispielsweise hier bei uns. Italien liegt gefühlt dazwischen. Es macht also Sinn diese Rahmenbedingungen bis zu einem gewissen Grad in seiner Auswahl-Entscheidung zu berücksichtigen. Natürlich kann man dies auch komplett unberücksichtigt lassen und sein Ding durchziehen, aber dann sollte man zumindest die Konsequenzen daraus gut kennen.
Zu guter Letzt noch ein Wort zur Umgebung. Enge Straßen und Gassen, zum Beispiel in Italien? Lasst die 50mm zu Hause und versucht es mit 21mm-35mm. Am Ende möchte ich damit nur darauf hinweisen, dass ihr Euch am besten vorab etwas über die örtlichen Gegebenheiten informiert, damit ihr mit dem richtigen Equipment loslauft. Eines wird Euch beim Lesen aufgefallen sein, wenn eure Art der Street Photography ähnlich zu der von Bruce Gilden ist, also entweder Frontal in die Fresse oder aus der Hüfte ins Gesicht, dann könnt ihr sicher die Hälfte von dem was ich geschrieben habe vergessen. Klingt eventuell ein wenig provokant, aber jeder hat seinen eigenen Stil und was für mich passt, muss für euch unter Umständen nicht passen. Das ist ok, aber trotzdem interessieren mich Eure Tricks und Erfahrungen sehr, weshalb ich mich immer auf einen Austausch freue.
Mehr über Feyzi:
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Link zum Bildband Istanbul’um: https://feyzidemirel.com/produkt/bildband-istanbulum
Mit folgendem Gutscheincode gibt es einen Rabatt von 6€ für Istanbul’um: paddy
Ich erlaube mir am Ende noch den dezenten Hinweis auf mein Videotutorial Kreative Streetfotografie
Danke, ich warte schon auf die nächsten Beiträge….
Inhaltlich sehr interessant und schöne Fotos. Ich freue mich schon auf den nächsten Beitrag.
Und welche Kamera(s) verwendest Du aktuell für Street Photography ?
Verwendest Du nur Festbrennweiten für Street?
@Volker: ich habe lange Zeit Fujifilm Kameras verwendet, seit etwas über 1 Jahr Leica M.
@Joachim: ja, ich verwende in der Tat nur Festbrennweiten.
Interessanter Beitrag, macht Vorfreude auf die anderen beiden Folgen
@Feyzu:
Danke dir für einen tollen Beitrag!
Der Werdegang ist bei mir sehr ähnlich und es freut mich das die Street Fotografie ein wenig Aufwind erlebt (auch dank tollen Kollektiven wie Soul of Street).
Die Sichtweise bzgl. dem Objektiv handhabe ich ähnlich - wobei ich bei 17mm (umgerechnet 34mm) angekommen bin und dies auch größtenteils in Deutschland verwende. Grundsätzlich gibt es kein richtig oder falsch, allerdings fehlt in Bildern welche höher 50mm aufgenommen worden sind meiner Meinung nach die Tiefe/Geschichte im Bild.
Freue mich auf weitere Bilder und Artikel!
Danke für den guten Beitrag hier!
Dein Prinzip mit der “Brennweite nach Stimmungslage” kann ich unterschreiben, mache ich genauso und freue mich, dass ich wohl nicht der Einzige bin mit dieser Marotte.
Habe auch Fuji X und Leica M, hadere aber noch immer mit dem Prinzip “Blende 8 und 3 Meter” und denke, es müsste doch irgendwie mit individueller Einstellung besser und perfekter gehen - geht es aber nicht, schon gar nicht mit Autofokus und aus der Hüfte, denn dann ist das Motiv weg.
Einige meine besten Streets in den letzten fünf Jahren habe ich analog gemacht, und da zum Teil mit Uralt-Kameras für 5 Euro aus der Bucht, die mit dem leisen Auslöser, wie Zeiss Ikon Contessa LK mit Tessar 50/2.8 oder der vergleichbaren Voigtländer Vito. Oder Minox 35 GT, mit Zeitautomatik.
Da kann ich dann auch die feste Voreinstellung akzeptieren. Nach dem Motto: der Moment ist wichtiger als das letzte Qentchen beim Bildausschnitt oder der Schärfe.
Und den Reiz einer partiellen Unschärfe oder von Bewegungsunschärfe habe ich neu entdeckt. Gerade das macht Fotos zum besonderen, zum Unikat.
Aber wie Du schon sagst: da muss jeder seinen Weg finden…
Also ich rate zu alten analogen Kameras mit integrierter Belichtungsmessung, bin aber absolut kein Freund von zone focusing (d.h. f8 und Voreinstellung des Abstands). Ja, es ist am Anfang schwer und man wird viele Fotos verpassen, aber je länger man das ganze macht, desto besser wird man und desto leichter geht das ganze von der Hand.
Wenn nicht analog fotografiert wird, würde ich trotzdem von jeder Automatik abraten und am Anfang eine ISO wählen, mit der man dann jedes Foto durchzieht. Man konzentriert sich dann auf Blende, Belichtungszeit und Fokus. Die drei Dinge, die sowieso am wichtigsten sind, um die eigene fotografische Technik zu verbessern. (Komposition ist für mich ein eigener Bereich)
Was ich aber vor allem rate: Bei einer Kamera und einer Brennweite bleiben! Nach einem Jahr kennt man die auswendig und kann alles im Schlaf einstellen. Sehr hilfreich. Nach einem Jahr (oder etwas länger/kürzer) muss man auch nicht mehr durch den Sucher schauen, um zu wissen, welcher Bildausschnitt von der Szene, die vor einem liegt auf dem Film/Sensor landen wird.
Nach 3 Jahren mit nur einer Brennweite ist das Bild schon komponiert, bevor ich den Sucher überhaupt vor meinem Auge habe. Es geht dann nur noch um die richtigen Einstellungen.